Die Bedeutung des Lehrers

Die Physikerin und Nobelpreisträgerin Anne l´Huillier berichtet in einem Interview im Tagesspiegel vom 26.3.2024 zum Thema: „Eine Frauenquote erzeugt nicht automatisch Gerechtigkeit“ über Vorurteile, Vorbilder und die ungewollten Konsequenzen positiver Diskriminierung. Zum Thema „Vorbilder“ zwei Fragen und die Antworten aus dem Interview:

Wer hat Ihnen Physik beigebracht?

Ich hatte in verschiedenen Phasen meines Lebens gute Lehrer, die eine große Rolle gespielt haben. Im letzten Jahr des Gymnasiums hatte ich eine sehr gute Lehrerin in Mathematik. Und dann hatte ich gegen Ende meines Studiums gute Dozenten in Atomphysik, wegen derer ich überhaupt erst in mein Forschungsgebiet gegangen bin. Das waren Claude Cohen-Tannoudji und Serge Haroche, beide haben später Nobelpreise bekommen. Sie waren hervorragende Lehrer, die das Fach wirklich interessant machten und mich inspirierten, mehr erfahren zu wollen.

Es gab in Deutschland nach der letzten Pisa-Studie eine große Diskussion darüber, warum es vielen Lehrern nicht gelingt, Schüler mitzureißen und zu begeistern. Was hat die Menschen, die Sie geprägt haben, zu guten Lehrern gemacht?

Ihr Enthusiasmus. Als ich hier in Lund zur Professorin ernannt wurde, habe ich in meiner Antrittsrede gesagt:

Man lehrt nicht was man weiß, sondern was man ist. Der Grundgedanke ist, dass nichts den Lehrer als Person ersetzen kann. Man kann nicht auf dieselbe Weise unterrichten, indem man auf einen Computer schaut, sondern man muss mit einer Person sprechen. Und diese Person lehrt viel mehr als nur das Fach, sondern auch ihre Persönlichkeit, die die Schüler beeinflusst.

Aus: https://www.tagesspiegel.de/wissen/physik-nobelpreistragerin-anne-lhuillier-eine-frauenquote-erzeugt-nicht-automatisch-gerechtigkeit-11217106.html

Beschimpfen, Beleidigen, Bloßstellen – Jedes sechste Schulkind erlebt Cybermobbing

Mobbing und Cybermobbing an Schulen in Deutschland: Ergebnisse der HBSC-Studie 2022 und Trends von 2009/10 bis 2022[1]


Hintergrund: Mobbing ist eine spezifische Gewaltform, die sich dadurch auszeichnet, dass sie wiederholt und mit der Absicht zu schädigen ausgeübt wird. Zwischen den beteiligten Schülerinnen und Schülern besteht ein Machtungleichgewicht, welches es den Gemobbten schwer macht, sich allein und ohne Hilfe Dritter gegen das Mobbing zur Wehr zu setzen. Das Machtungleichgewicht zwischen Lernenden kann beispielsweise durch unterschiedliche körperliche Größe und Stärke, aber auch durch Aspekte wie die soziale Eingebundenheit entstehen. Mobbinghandlungen können beispielsweise Beleidigungen, Schläge, Tritte, das Verbreiten von Gerüchten oder soziale Ausgrenzung umfassen. Tritt das Mobbing medial vermittelt auf (z.B. über soziale Netzwerke oder Chatgruppen), wird es Cybermobbing genannt. (S. 46f)

Zent­rale Besonderheiten des Cybermobbings im Vergleich zum schulischen Mobbing außerhalb des digitalen Raumes lie­gen darin, dass die gemobbten Lernenden beim Cybermob­bing oft nicht wissen, wer das Mobbing ausübt. Diese Ano­nymität kann das Machtungleichgewicht, welches zwischen Mobbenden und Gemobbten besteht, noch weiter erhöhen. (S. 47)

Die tägliche Nutzung digitaler Medien und dabei insbesondere die häufige sozi­ale Interaktion im digitalen Raum kann das Risiko für Mob­bing (sowohl traditionell als auch medial vermittelt) erhö­hen. (S. 48)

Die Studie Health Behaviour in School-aged Children (HBSC) ist als Querschnittstudie angelegt, die alle vier Jah­re im Schulsetting stattfindet und Schülerinnen und Schü­ler im Alter von ca. 11, 13 und 15 Jahren (mittlere Abwei­chung von 0,5 Jahren) befragt. In Deutschland sind diese Altersgruppen überwiegend in den Jahrgangsstufen 5, 7 und 9 vertreten. In der HBSC-Studie wurden in Deutsch­land bisher in den Schuljahren 2009/10, 2013/14, 2017/18 sowie im Kalenderjahr 2022 Schülerinnen und Schüler an allgemeinbildenden Schulen in allen 16 Bundesländern befragt. (S. 49)

Aus der Erhebungswelle 2022 liegen Daten von N = 6.475 Lernenden an 174 Schulen vor (50,3 % Mädchen, 47,5 % Jungen, 1,7 % Heranwachsende, die sich als gender-divers identifizieren. (S. 49) In Bezug auf die Ausübung von Mobbing berichteten Lernende an Sekundarschulen häufiger als Lernende an Gymnasien und Hauptschulen davon, andere in der Schule gemobbt zu haben. Lernende an Gymnasien gaben seltener als Lernende an Gesamt- und Sekundarschulen an, andere online gemobbt zu haben. (S. 54)

Verbreitung von schulischem Mobbing und Cybermobbing im Jahr 2022

Knapp 14 % der befragten Heranwachsenden gaben an, 2022 in der Schule gemobbt worden zu sein und/oder andere gemobbt zu haben. Damit machte 2022 ungefähr jede bzw. jeder siebte Lernende direkte Mobbingerfahrungen. Bedenkt man, dass Mobbing nicht nur diese direkt betroffenen Ler­nenden, sondern auch alle, die Mobbing in ihrer Klasse beobachten und erleben, negativ beeinflussen kann, unterstreicht dieser Befund, dass Mobbing nach wie vor für viele Kinder und Jugendliche ein alltägliches Problem ist. (S. 58)

Die Betrachtung der Mobbingverbreitung nach Schul­formen zeigt, dass Mobbing an allen Schulformen stattfin­det. Lernende an Gymnasien berichteten 2022 tendenziell weniger Mobbing als Lernende an anderen Schulformen. Lernende an Hauptschulen berichteten besonders häufig davon, online gemobbt worden zu sein. Die Erfahrung, selbst gemobbt zu werden, wurde aber an allen Schulfor­men angegeben. Dies steht in Einklang mit früheren Unter­suchungen und illustriert, dass Maßnahmen zur Mobbingprävention und -intervention an allen Schulformen bedeutsam sind. (S. 59)

Aufgrund der COVID-19-Pandemie hat die Frage nach der Entwicklung der Mobbingverbreitung von 2017/18 bis 2022 besondere Relevanz. Die vorliegenden Befunde legen aber nahe, dass die Pandemie zu keinen bedeutsamen Ver­änderungen in der Verbreitung des schulischen Mobbings geführt hat. […] Die Verbreitung des Cybermobbings hat jedoch zuge­nommen. Der Anstieg betrifft dabei vor allem 13-jährige Lernende und Jungen. Die Zeit, die Kinder und Jugendliche mit Online-Medien verbringen, hat 2022 weiter zugenom­men. […] Da das schulische Mobbing nicht abgenommen, aber das Cybermobbing zugenommen hat, ist die Mobbingpro­blematik insgesamt im Vergleich zu 2017/18 im Jahr 2022 größer. (S. 60)

Schlussfolgerungen:

Die vorliegende Studie zeigt, dass Mobbing für viele Kinder und Jugendliche eine alltägliche Erfahrung ist. Insgesamt sind die Fortsetzung und weitere Implemen­tierung von Anti-Mobbing-Maßnahmen an Schulen unumgänglich, um Mobbing und der damit verbundenen Gewalt [2] erfolgreich entgegenwirken zu können. Entsprechende Maßnahmen sollten neben den Lernenden selbst auch die Lehrkräfte und das ganze System Schule adressieren. Dabei sollten den Lehrkräften verschiedene erfolgreiche Anti-Mobbing-Strategien vermittelt werden, die sie situationsspezifisch auswählen können und sie soll­ten darin bestärkt werden, auf ihr eigenes pädagogisches Handeln auch bei Mobbingvorfällen zu vertrauen. […] Schülerinnen und Schüler soll­ten innerhalb ihrer Klassen ermutigt werden, den gemobb­ten Lernenden beizustehen und den mobbenden Lernenden damit motivierende positive Rückmeldungen zu entziehen. […] [G]eschulte und verfügbare Schulsozialarbei­terinnen und Schulsozialarbeiter können dazu beitragen, schulweite Anti-Mobbing-Maßnahmen durchzuführen und somit Lehrkräfte entlasten und Ansprechpersonen für Schü­lerinnen und Schüler darstellen. […] Zudem müssen Heranwachsende Ansprechpersonen haben, an die sie sich vertrauensvoll wenden können, wenn sie negative Erfahrungen online machen oder in der Schule oder online gemobbt werden oder Mobbing beobachten. (S. 62)


[1] Aus:  Fischer SM, Bilz L (2024) Mobbing und Cybermobbing an Schulen in Deutschland: Ergebnisse der HBSC-Studie 2022 und Trends von 2009/10 bis 2022. J Health Monit 9(1): S. 46–67. DOI 10.25646/11871  https://www.rki.de/DE/Content/Gesundheitsmonitoring/Gesundheitsberichterstattung/GBEDownloadsJ/JHealthMonit_2024_01_HBSC.pdf?__blob=publicationFile, S. 46-67

[2] Aus: TSP, 25.3.2024, „Ein falscher Blick führt sofort zum Knall“: Berliner Schulleiter berichten über die Gewalt an ihren Schulen (tagesspiegel.de)

In Berlin verzeichnet die Kriminalstatistik bei Gewaltdelikten an Schulen für das Jahr 2023 einen Anstieg um 17 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Drei Schulleiter und eine Schulleiterin berichten über Gewaltdelikte an ihrer Schule:

„Bei jeglicher Gewalt in der Schule gilt die Prämisse: Alles muss zur Strafanzeige gebracht werden, auch Kleinstvorfälle. Auf diese Weise sollen die Schülerinnen und Schüler begreifen, dass ihr Tun unmittelbare Konsequenzen hat. Das Verfahren ist dreischrittig. Es besteht aus klaren Regeln, klarer Kommunikation, sofortigen Strafen. Damit soll schon der Versuch von Grenzüberschreitungen im Keim erstickt werden. […] Was kann die Politik tun? Zu den wichtigsten Maßnahmen gehört die Frühförderung: Je besser vorbereitet die Kinder eingeschult werden, desto geringer ihr Frust und die Gefahr, dass sie diesen in Gewalt umsetzen.“

„Die Zündschnur von einer kurzen verbalen Auseinandersetzung bis zur handfesten Schlägerei ist kürzer geworden. Offenbar kennen die Kinder in dem Augenblick keine andere Möglichkeit, zu reagieren.“

„Wir erstatten auch Meldungen im Rahmen des Kinderschutzes, wenn wir den Eindruck bekommen, dass in der Familie Videospiele oder TV-Formate konsumiert werden, die die Kinder noch gar nicht sehen dürfen. Mit dieser Herangehensweise haben wir wirklich ganz gute Erfahrungen gemacht.  Für uns ist auch wichtig herauszufinden, welche Rolle Gewalt in der Familie spielt. Mitunter wollen sie den Blick in die Familie gar nicht zulassen. Viele sind aber unwahrscheinlich dankbar, wenn das Problem erst mal auf dem Tisch ist und ihnen Hilfe angeboten wird.“

„Bereits in der ersten Klasse sitzen Kinder, die nicht mehr neugierig, kaum beschulbar sind. Die Ursache liegt in sozialer Verwahrlosung. Mit diesen Kindern wird zu wenig gesprochen, sie bekommen ein Handy in die Hand, noch bevor sie ihren Windeln entwachsen sind. So werden sie ruhig gestellt. […] Hinzu kommt häufig die unkontrollierte und unkommentierte Nutzung der (a)sozialen Medien mit ihren zum Teil menschenfeindlichen Darstellungen. […] Die häusliche Gewalterfahrung spielt ebenfalls eine große Rolle. Es gibt Kinder, die lernen zu Hause, dass Gewalt eine Lösungsstrategie ist“.


Der Leserbrief eines Gymnasiallehrers zum Thema im Tagesspiegel:

Liebe Frau Vieth-Entus!
Danke für Ihren hinterfragenden Artikel „Mehr Gewalt an Schulen | Worüber wundert ihr euch?“ im Tagesspiegel vom 19. März 2024.
Ihre Sätze
„Auf der Suche nach den Ursachen werden vor allem die Isolation während der Pandemie und die sozialen Medien als Gewalttreiber genannt.“
„Hier ist auch der Ort, an dem sich bereits Neunjährige pornografische Videos per Tiktok zuschicken oder per Cybermobbing Mitschülerinnen und Mitschülern das Leben zur Hölle machen.“

Warum aber gibt es diesen Digitalisierungshype, warum sollen dann die Schulen (oder gar die Schüler) digitalisiert werden? Sind die teuren Ideen, jeden Schüler mit einem digitalen Endgerät auszustatten und schnelles WLAN für alle in den Schulen zu installieren etc., nicht eine staatliche Subvention, eine Absegnung dieser Irrungen? Vereinsamung und asoziale Medien — Tiktok und Zocken am Handy/Tablet/Laptop/PC statt Kicken mit Kumpels, Pornos statt Bücher, Chatten und Mobbing statt persönlicher Umgang (inklusive Konflikte und deren Lösung) mit Gleichaltrigen  — nun auch auf Staatskosten in der Schule, demzufolge rund um die Uhr, sieben Tage die Woche? Roboter, künstliche (!) Intelligenz und „Lern“programme statt Menschen und Zuwendung für alle Kinder und Jugendlichen?

Ich wundere mich über gar nichts, wäre meine Antwort auf Ihre Frage.

Beste Grüße,
Thilo Steinkrauß

Technologie in der Bildung: EIN WERKZEUG – ZU WESSEN BEDINGUNGEN?

Global Education Monitoring Report 2023. Technology in education: A tool on whose terms? Summary.

Aus der deutschen Übersetzung der deutschen UNESCO-Kommission einige Kernaussagen mit Schwerpunkt „Digitale Medien in der Bildung“:

Es gibt einen Mangel an guten, unvoreingenommenen Erkenntnissen über die Auswirkungen von digitalen Medien in der Bildung.

  • Es gibt wenige belastbare Belege für den Mehrwert von digitalen Medien in der Bildung. Die Technologie entwickelt sich schneller, als wir sie evaluieren können: Produkte aus dem Bereich der Bildungstechnologien ändern sich im Durchschnitt alle 36 Monate. Der Großteil der Erkenntnisse stammt aus den reichsten Ländern. Im Vereinigten Königreich haben 7 % der Unternehmen für Bildungstechnologien randomisierte kontrollierte Studien durchgeführt, und 12 % nutzten eine externe Zertifizierung. Eine Umfrage unter Lehrkräften und Schulverwaltungen in 17 US-Bundesstaaten ergab, dass nur 11 % von ihnen vor der Einführung nach einer von Fachleuten geprüften Bewertung fragten. (S. 1)
  • Ein Großteil der Studien stammt von den Anbietern, die die Produkte verkaufen wollen. Pearson [der weltweit größte Bildungskonzern und Buchverlag, zudem Marktführer für Bildungsmedien in Großbritannien, Indien, Australien und Neuseeland, zugleich die zweitgrößte Verlagsgruppe in den USA und Kanada] finanzierte eigene Studien und bestritt unabhängige Untersuchungsergebnisse, wonach die Produkte des Unternehmens keine Effekte zeigten. (S. 1)

Kurz gesagt: Wir verfügen zwar über viele allgemeine Forschungsarbeiten zum Lernen mit digitalen Medien. Der Umfang der Forschung zu konkreten Anwendungen und Rahmenbedingungen ist jedoch unzureichend, sodass es schwierig ist, nachzuweisen, dass eine bestimmte Technologie eine bestimmte Art des Lernens fördert. (S. 7)

Warum entsteht dennoch häufig der Eindruck, dass digitale Medien die Antworten auf die großen Herausforderungen im Bildungsbereich bieten könnten?

Um den Diskurs über digitale Medien in der Bildung zu verstehen, ist es wichtig, dass wir die Sprache, mit der sie beworben werden, und die Interessen, denen sie dienen sollen, hinterfragen.

  • Wer definiert den Rahmen für die Probleme, die mit digitalen Medien gelöst werden sollen?
  • Welche Folgen entstehen daraus für die Bildung?
  • Wer präsentiert digitale Medien in der Bildung als Voraussetzung für die Transformation von Bildung?
  • Wie glaubwürdig sind solche Behauptungen?
  • Welche Kriterien und Standards müssen festgelegt werden, um den aktuellen und potenziellen künftigen Beitrag digitaler Medien für die Bildung zu beurteilen, damit wir Hype und Substanz unterscheiden können?
  • Können Forschung und Evaluation mehr sein als kurzfristige Beurteilungen von Auswirkungen auf das Lernen und potenziell weitreichende Folgen des umfassenden Einsatzes digitaler Medien in der Bildung erfassen? (S. 7)

Übertriebene Erwartungen an digitale Medien gehen Hand in Hand mit übertriebenen Schätzungen zur Größe des weltweiten Marktes. Die Schätzungen von Business-Intelligence-Anbietern für das Jahr 2022 bewegen sich zwischen 123 Mrd. und 300 Mrd. US-Dollar. Solche Berechnungen werden fast immer in die Zukunft projiziert und sagen ein optimistisches Wachstum voraus, aber sie geben keine Auskunft über historische Entwicklungen und prüfen nicht, ob sich frühere Prognosen bewahrheitet haben. Solche Berichte bezeichnen Bildungstechnologien routinemäßig als unverzichtbar und Technologieunternehmen als Enabler und Disruptoren. Wenn sich die optimistischen Prognosen nicht erfüllen, wird die Verantwortung implizit auf die Regierungen abgewälzt, um den indirekten Druck auf diese aufrechtzuerhalten, vermehrt in entsprechende Anschaffungen zu investieren. Das Bildungswesen wird dafür kritisiert, dass es sich nur langsam verändere, in der Vergangenheit verhaftet sei und in Sachen Innovation hinterherhinke. Eine solche Darstellung spielt mit der Faszination der Menschen für Neues, aber auch mit ihrer Angst, abgehängt zu werden. (S. 7)

Technologieunternehmen können einen unverhältnismäßig großen Einfluss auf die Entwicklung entsprechender Untersuchungen haben. So finanzierte [der weltweit größte Bildungskonzern] Pearson beispielsweise Studien, mit denen unabhängige Analysen angefochten wurden, die ihrerseits gezeigt hatten, dass die Produkte von Pearson keine Wirkung hatten. (S. 11)

Studien auf der Grundlage von PISA-Daten deuten auf einen negativen Zusammenhang zwischen der Nutzung digitaler Medien und den Lernergebnissen der Schülerinnen und Schüler hin, sobald die Schwelle einer moderaten Nutzung überschritten ist. Lehrkräfte empfinden die Nutzung von Tablets und Handys als Beeinträchtigung ihrer Klassenführung. Mehr als eine von drei Lehrkräften in sieben Ländern, die an der ICILS-2018-Studie teilnahmen, stimmten zu, dass die Verwendung digitaler Medien im Klassenzimmer die Lernenden ablenkt. (S. 11f)

Bildungssysteme sollten bei der Entscheidung über die Einführung digitaler Technologien stets sicherstellen, dass die Interessen der Lernenden im Mittelpunkt eines auf Rechten basierenden Rahmens stehen. Der Fokus sollte nicht auf digitaler Infrastruktur, sondern auf den Ergebnissen des Lernens liegen. Zur Verbesserung des Lernens sollten digitale Medien die persönliche Interaktion mit Lehrkräften nicht ersetzen, sondern ergänzen. (S. 20)

Weitere Fragestellungen und Hinweise:

Die Rolle von digitalen Medien in der Bildung ist seit langem Gegenstand intensiver Debatten:

  • Sorgen sie für eine Demokratisierung des Wissens – oder bedrohen sie die Demokratie, indem sie die Kontrolle über Informationen in die Hände weniger Auserwählter legen?
  • Bieten sie grenzenlose Möglichkeiten, oder führen sie in eine zukünftige Technologieabhängigkeit, aus der es kein Zurück mehr gibt?
  • Führen sie zu einer Angleichung der Bedingungen, oder verschärfen sie die Ungleichheit?
  • Sollten sie für den Unterricht junger Kinder eingesetzt werden, oder besteht ein Risiko für deren Entwicklung? (S. 33)

Der UNESCO-Bericht „Technologie in der Bildung: EIN WERKZEUG – ZU WESSEN BEDINGUNGEN?“ empfiehlt, dass Technologie in der Bildung evidenzbasiert eingeführt werden sollte, also auf Grundlage von Nachweisen, dass sie geeignet, chancengerecht, skalierbar und nachhaltig ist. Mit anderen Worten: Ihr Einsatz sollte im besten Interesse der Lernenden liegen und die zwischenmenschliche Interaktion ergänzen. Digitale Medien sollten als Werkzeug verstanden werden, das unter diesen Bedingungen genutzt werden kann. (S. 33)

Technologie [in der Bildung] kann aber auch ausgrenzend, irrelevant und belastend, wenn nicht sogar schädlich sein. Regierungen müssen für die richtigen Bedingungen sorgen, um einen chancengerechten Zugang zu Bildung für alle zu ermöglichen, und müssen die Nutzung von Technologien so regulieren, dass die Lernenden vor deren negativen Einflüssen geschützt werden. (S. 33)

Weitere Informationen:

UNESCO-Bericht zu IT in Schulen fordert mehr Bildungsgerechtigkeit

Technologie in der Bildung: EIN WERKZEUG – ZU WESSEN BEDINGUNGEN?

Hirnforschung an der Schule: Auf einer Wellenlänge

Soziale Interaktion ist von zentraler Bedeutung für das Lehren und Lernen.

Sören Maahs  

Schule ist mehr als ein Ort der Stoffvermittlung. Sie ist vor allem auch ein Raum des Miteinanders und des sozialen Lernens. „Zusammenarbeiten, sich begegnen, gemeinsam handeln“ so Michaela Sambanis, Professorin an der Freien Universität Berlin. Sie bildet Lehrkräfte für das Fach Englisch aus und verbindet in ihrer Arbeit Hirnforschung mit Didaktik.

Zahlreiche Untersuchungen belegen, dass die menschlichen Beziehungen in einem Klassenzimmer entscheidend dafür sind, dass Kinder und Jugendliche erfolgreich lernen. Gerade für das Sprachenlernen sei Interaktion von großer Relevanz, sagt Michaela Sambanis: „Was wirklich zählt und die Lernatmosphäre ausmacht, sind Interaktionen, die soziale Nähe ermöglichen.“ Doch das Phänomen der Interaktion ist schwer fassbar. Lässt sich ihre Dynamik objektiv erforschen?

Was im Kopf von Schulkindern vorgeht, während sie im Unterricht sitzen, ließ sich bisher kaum beantworten. Bis vor wenigen Jahren untersuchten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Hirnforschung soziale Prozesse nur an einzelnen Probanden, die andere Personen beobachten. Inzwischen ist es aber möglich, mittels Elektronenzephalografie (EEG) die Gehirnwellen bei mehreren Lernenden gleichzeitig zu ermitteln und die Aktivitätsmuster zu vergleichen, während die Personen miteinander interagieren.

„Neuronale Kopplung“ im Klassenzimmer

Für solche Studien kommen tragbare, haubenartige EEG-Geräte im Klassenzimmer zum Einsatz, erklärt Sambanis. Das Ziel sei es, dem Gehirn bei möglichst natürlichen Kontakten „zuzuschauen“ und zu beobachten. Dabei entdeckten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, dass sich bei bestimmten Aktivitäten die Hirnsignale der Lernenden synchronisierten. Diese „neuronale Kopplung“ zeige sich in Phasen produktiver Aktivierung der Gruppe, etwa bei anregenden Diskussionen im Unterricht.

Lässt sich bei mehreren interagierenden Schulkindern eine Angleichung der Hirnaktivierung erkennen, sei dies ein messbarer Hinweis für das Engagement im Unterricht. Das wiederum bilde eine gute Grundlage für die kognitive Auseinandersetzung mit dem vermittelten Stoff. „Je höher die Synchronisierung mit den Mitschülerinnen und Mitschülern ist, desto weniger lassen sie sich ablenken“, erläutert die Didaktikprofessorin.

Der Blick in die Köpfe einer Schulklasse zeige auch: Je wohler sich die Lernenden in ihrer Klasse und mit der Lehrkraft fühlen, desto wahrscheinlicher ist es, dass sie sich auf den Stoff einlassen und ihm die nötige Aufmerksamkeit schenken. Das Zugehörigkeitsgefühl unter den Schülerinnen und Schülern, das berühmte „Klassenklima“, ist entscheidend daran beteiligt, ob der gehirnliche Gleichtakt mit anderen aus der Klasse zustande kommt, erklärt Michaela Sambanis. „Vor diesem Hintergrund beantwortet sich die Frage, ob gemeinschaftsstärkende Aktivitäten wertvolle Unterrichtszeit verschwenden oder ob sich eine kleine Zeitinvestition dafür lohnt, gewissermaßen von selbst.“ […]

Besser lernen durch positive Lernatmosphäre und soziale Nähe

Siehe: https://www.tagesspiegel.de/auf-einer-wellenlange-4311367.html

„Das Bunte können wir nicht mehr abschaffen. Was wir brauchen, sind Konzepte, um damit umzugehen“

PISA-Schock: Erfahrene Lehrkraft spricht über den Zusammenhang von Diversität und Leistungseinbruch an den Schulen im Land.

Veröffentlicht auf Focus-online am 8. Januar 2024. Veröffentlichung auf Schulforum-Berlin mit freundlicher Genehmigung des Autors, Rainer Werner.

Kürzlich hat der frühere Berliner Gesamtschul- und Gymnasiallehrer Rainer Werner in einem Interview erläutert, wo er die wichtigsten Hebel im Umgang mit der Bildungskrise sieht.[1] Das Thema Migration war für ihn dabei eine Randnotiz. Weil es im Forum ungewöhnlich heftig diskutiert wurde, hat Werner sich dazu bereit erklärt, das Ganze zu vertiefen.

Wir haben kürzlich ein Interview mit Ihnen geführt, das auf außergewöhnlich große Resonanz gestoßen ist. In den Kommentaren im „Forum“ spielte Ihr Hinweis auf die Wichtigkeit der Sekundärtugenden eine große Rolle. Könnten Sie noch einmal ausführen, welche Tugenden Sie meinen.

Heute geschieht es immer häufiger, dass Schüler vor Aufgaben kapitulieren, die Ihnen zu kompliziert erscheinen. Wenn eine Mathe-Aufgabe nicht innerhalb einer Minute lösbar ist, schmeißen manche den Block in die Ecke und sind völlig frustriert. Viele Schulen arbeiten deshalb mit Hilfe von Schulpsychologen daran, das Durchhaltevermögen der Schüler zu verbessern, ihnen Ausdauer und Ehrgeiz beizubringen. Das ist auch nötig, damit sich die Lernergebnisse verbessern. Aufmerksamkeit ist z. B. eine der Sekundärtugenden, bei der es großen Handlungsbedarf gibt. Die Digitalität hat unser Leben beschleunigt: Inhalte werden oft nur noch überflogen, um ein Like zu setzen, und schon geht’s direkt zur nächsten Botschaft. Die Digitalisierung wird sich nicht aufhalten lassen, im Gegenteil, die Prozesse werden sich weiter beschleunigen. Deshalb arbeitet ein guter Unterricht daran, dass sich die Schüler ohne Zeitdruck auf den geistigen Prozess des Unterrichts einlassen und dabei Durchhaltevermögen entwickeln.

Welche Herausforderungen gibt es noch?

Kaum jemand dürfte bestreiten wollen, dass wir uns in einer gesellschaftlichen Entwicklung befinden, in der die Schule zahlreiche Probleme, die im Außen existieren, ausbügeln muss: Intoleranz, Unduldsamkeit, Neigung zu Gewalt, Sprachunfähigkeit, Verrohung. Ich finde es falsch und realitätsfremd, wenn wir uns darüber beschweren und sagen, dass sei nicht die Aufgabe von Bildungsinstitutionen. Wir können auf das Verhalten der Kinder am besten da einwirken, wo sich ein großer Teil ihres Lebens abspielt: an den Schulen. Da heute die meisten Schulen Ganztagesschulen sind, gäbe es ideale Möglichkeiten, soziale Tugenden wie Kooperation, Teamgeist, Hilfsbereitschaft und Solidarität auszubilden. Freie Arbeits- und Projektgruppen wären dafür geeignete Formate.

Sehen Sie auch Handlungsbedarf im Unterricht?

Ja, ich bin überzeugt, es würde ein Ruck durch die Schulen gehen, wenn sich alle bemühen würden, das Kerngeschäft der Lehrkräfte, den Unterricht, zu stärken. Viele Schulen leiden darunter, dass von den Schulbehörden vor allem Organisatorisches kommt. Dabei ist das Betriebssystem einer Schule immer die Didaktik, der gut gemachte Unterricht. Davon hängt ab, ob die Schüler viel oder wenig lernen. Ich würde es wirklich begrüßen, wenn wir die Pascha-Diskussion konstruktiv führen würden! Ich glaube übrigens, dass Friedrich Merz, von dem die „kleine Paschas“ ja ursprünglich stammen, genau das wollte.

Der CDU-Politiker hat sich im vergangenen Jahr bei Markus Lanz zum Thema geäußert…

… richtig, aber zitiert wurde er hinterher immer nur mit den beiden Skandalwörtern. Ich habe damals im Netz nach dem vollständigen Zitat gesucht und konnte es nicht finden. Dann transkribierte ich die Tonspur der Talkshow und siehe da: Das vollständige Zitat schilderte detailliert, mit welchen Zumutungen Grundschullehrerinnen zu kämpfen haben, wenn ihnen Jungen aus dem arabischen Kulturraum keinen Respekt zollen und sich nach einem starken Mann sehnen. Keine einzige Qualitätszeitung hat das Zitat in Gänze abgedruckt und zum Anlass genommen, eine pädagogische Diskussion über die Schwierigkeiten zu führen, denen die Lehrkräfte an unseren Grundschulen ausgesetzt sind. […]

Welche Möglichkeiten gibt es, handgreifliche Konflikte, von denen man in letzter Zeit so häufig hört, einzudämmen?

Es ist fraglich, ob es eine einzelne Lehrkraft allein schafft, die bestehenden Erziehungsdefizite auszugleichen. Das ganze Kollegium muss sich dieser Erziehungsaufgabe widmen, im Idealfall auf Grundlage eines konsensfähigen erzieherischen Leitbildes. An einer Gesamtschule, an der ich zwölf Jahre lang unterrichtet habe, führten wir z.B. ein Kommunikationstraining durch, durch das Schüler lernten, Konflikte verbal und nicht mehr handgreiflich zu lösen. Ein beträchtlicher Teil der Schüler an dieser Schule stammte aus dem patriarchalen Kulturkreis und hatte es nicht gelernt, Konflikte anders als körperlich zu lösen. Es war verblüffend zu sehen, wie die Schüler nach und nach lernten, heikle Situationen im Rollenspiel friedlich aufzulösen und wie sie die neuen Verhaltensmuster dann auch im Pausenhof immer öfter anwandten. Dies nur als ein konzeptuelles Beispiel. Es gibt viele Punkte, an denen angesetzt werden kann oder muss.

Wo zum Beispiel?

Vor einigen Jahren gab es in Berlin eine Kampagne, die sich an männliche Lehramtsstudenten richtete. Das Ziel war, mehr männliche Lehrkräfte an die Grundschulen zu bringen. Die Kampagne richtete sich darüber hinaus auch an junge Männer in der Ausbildung zum Erzieher, denn auch in den Kitas gibt es eine massive Überrepräsentanz des Weiblichen. Meines Wissens hat die Maßnahme gefruchtet, aber nur ein oder zwei Jahre lang, dann ist der Effekt wieder verpufft. Schade. Das Ziel an den Grundschulen sollte ein ausgeglichenes Verhältnis von weiblichen zu männlichen Lehrkräften sein. Fifty-Fifty also. Ich bin überzeugt, das könnte viele der aktuellen Konflikte abschwächen.

Aber nur, wenn die Jungen an eine männliche Lehrkraft geraten und diese dann auch nicht zu soft ist – oder?

Das glaube ich nicht. Die nicht so durchsetzungsstarken Lehrkräfte müssen auch lernen, mit solchen Jungen richtig umzugehen. Ich erinnere mich noch an einen Bio-Lehrer, der mir mal bei einem Schulausflug sein Herz ausschüttete. Er klagte über einen türkischen Schüler, der von der ersten bis zur letzten Minute seinen Unterricht stören würde. Den Kollegen machte das fix und fertig, er stand kurz vor der Depression.

Konnten Sie ihm denn helfen?

Zuerst fragte ich: Was hast du gegen den Knaben unternommen? Er antwortete: Ich habe sämtliche schulischen Sanktionen gegen ihn ergriffen – ohne Erfolg. Dann fragte ich ihn, ob er es schon mal mit Lob probiert habe. Er schaute mich an, als ob ich einen völlig unsinnigen Vorschlag gemacht hätte. Aber ich ließ mich nicht beirren. Rede mal mit anderen Kollegen, die den Schüler kennen, meinte ich. Frage sie, wo die Stärken des Jungen liegen. Und rede am besten auch mal mit dem Sportlehrer. Das war die richtige Fährte, denn der türkische Junge war ein Fußball-Ass, spielte in der Schulmannschaft als Kapitän. Die Mädchen himmelten ihn an.

Wie ging es weiter?

Ich sagte dem Bio-Lehrer, er solle es wie Angela Merkel bei der Fußball-Weltmeisterschaft 2014 machen. Einfach zum nächsten Spiel gehen und dann mit dem Jungen ein wenig Smalltalk in der Kabine machen. Genau das tat er. Als er mich beim nächsten Mal kontaktierte, meinte er, er sei mir zu Dank verpflichtet. Er habe den Jungen gelobt – seitdem sei er zahm wie ein Reh. Mir ist es wichtig, diese Geschichte so ausführlich zu erzählen, weil ihr ein häufiges Muster zu Grunde liegt: Oft werden Verhaltensauffälligkeiten von Schülern – Aggressionen, Grenzüberschreitungen, aber auch ein innerer Rückzug – bestraft, statt sie als das zu sehen, was sie meist sind: Hilfeschreie, der Wunsch, mehr beachtet zu werden. Es wäre viel gewonnen, wenn alle Lehrkräfte, die solche Schüler unterrichten, die Signale erkennen und mit den Schülern das Gespräch suchen würden. Viele vermeintlich problematische Schüler, die ich erlebt habe, haben durch ihr Verhalten häusliche Konflikte kompensiert. Wenn man sie nun auch noch in der Schule bestraft und gedemütigt hätte, wären einige von ihnen Schulflüchtige geworden. Dabei gibt es so viele Mut machende Beispiele, wie Konfliktspiralen durchbrochen werden können. […]

Was ist für Sie die wichtigste Erkenntnis der aktuellen PISA-Studie?

Zum ersten Mal wurde dokumentiert, dass die Leistungen aller Schüler unter der größer gewordenen Diversität in den Klassen leiden. Wenn man diese Erkenntnis ernst nimmt, gibt es keine Ausreden mehr. Wir müssen jetzt die Schulen so ertüchtigen, vor allem pädagogisch und didaktisch, dass sie mit den diversen Klassen besser umgehen können.

Wie soll das gehen?

Das Problem ist, dass unsere pädagogischen Konzepte nicht so beschaffen sind, dass sie gutes Lernen unter diesen erschwerten Bedingungen ermöglichen. Die Buntheit können wir sowieso nicht mehr abschaffen. Die ist in modernen Gesellschaften nun mal Realität. In den Lehrerkollegien gibt es so viel pädagogischen Sachverstand, dass es merkwürdig wäre, wenn es einem eingeschworenen Team nicht gelingen würde, Lern- und Erziehungskonzepte zu entwickeln, die mit der Vielfalt der Begabungen, kulturellen und religiösen Prägungen umgehen können. Ich bin davon überzeugt, dass eine Rückkehr zum begabungsgerechten Lernen, vor allem in den Hauptfächern, dazu beitragen könnte, dass alle Schülergruppen gute Lernleistungen erzielen. Warum sollte man nicht die schwachen Lerner in einer Lerngruppe zusammenfassen? Sie würden davon mehr profilieren, als wenn sie im Klassenverband von 25 Schülern untergehen.

Was für Konzepte empfehlen Sie sonst noch, um die Probleme anzupacken?

Zum Beispiel einen durchgehenden fachlichen Förderunterricht für Schüler, die Verständnisprobleme haben. Gute Erfahrungen machen Schulen mit Patenmodellen: Ältere Schüler geben jüngeren fachliche Nachhilfe. Dann die schon genannten Kommunikationsübungen und Rollenspiele. Lehrkräfte müssen lernen, genau hinzuschauen, um Lernkrisen rechtzeitig zu erkennen. Nützlich wäre es, wenn Lehramtsstudenten im Studium das Instrument der Lerndiagnostik besser vermittelt bekämen. Dann könnten sie später als Lehrkraft viel schneller erkennen, wenn ein Schüler fachliche Probleme hat. Nichts ist für einen Schüler frustrierender, als wenn er mit seinen Verständnisproblemen über Wochen und Monate hinweg alleingelassen wird.

Gibt es auch etwas Positives von der Schule zu berichten?

Ja, eine Schülergruppe hat von unserem Schulsystem in besonderer Weise profitiert: die Mädchen. Sie sind die Gewinner des Aufstiegs durch Bildung. Sie haben die Jungen, was die Abi-Zahlen angeht, vor ein paar Jahren überholt. Und auch qualitativ sind sie spitze: Unter den besten fünf Schülern eines Abi-Jahrgangs finden sich oft nur Mädchen. Mädchen mit ausländischen Wurzeln haben daran nachweislich einen immer größeren Anteil. Ja, man könnte sagen, dass auch muslimische Mädchen durchstarten. Wir sollten alles tun, um sie auf diesem Weg zu unterstützen. Wir sollten aber auch die Jungen im Auge behalten und vor allem an den Grundschulen besser in den Fokus nehmen – Stichwort: mehr männliche Lehrkräfte.

Das Wort „Lehrer“ fällt bei Ihnen gerade ziemlich oft…

Ich habe vor einigen Jahren ein Buch mit dem Titel geschrieben „Auf den Lehrer kommt es an“. Das kann man ruhig wörtlich nehmen. Lehrer haben es in der Hand, ob das Lernen gelingt oder nicht. Wer eigene Kinder hat, erlebt beim Abendbrot, dass der Sohn oder die Tochter den einen Lehrer loben, weil er so gut erklären kann, und die andere Lehrerin tadeln, weil es in ihrem Unterricht immer chaotisch zugeht. Bei Klassentreffen 20 Jahre nach dem Abitur können sich gestandene Familienväter noch gut an den tollen Geschichtslehrer erinnern, der die historischen Ereignisse so spannend erzählen konnte. Ein guter Lehrer bleibt ewig im Gedächtnis.

Hätten Sie noch ein schönes Schlusswort?

Ich vergleiche die Schule gerne mit einer ewigen Baustelle. Das Haus ist nie fertig. Mal muss man einen Erker anbauen, mal die Veranda erweitern, mal vielleicht den Garten vergrößern. Schule ist nichts Starres, sondern entwickelt sich durch die, die in ihr wirken, stetig weiter. Die Bewohner des Hauses arbeiten für den Moment, denn morgen kann alles schon wieder anders sein. So wie auch sonst im Leben. Überall in der Gesellschaft gibt es Veränderung. Wir leben in einer Welt, die internationaler, digitaler, bunter geworden ist und sich weiter wandelt. Schule darf sich nicht dagegen abschotten. Wir müssen die Schülerschaft so nehmen, wie sie ist. Zu sagen, in diesem Haus haben einige keinen Platz, wäre falsch.

[1] „Nicht das System ändern! Den Unterricht verbessern!“ | Für eine gute Schule (wordpress.com)

Rainer Werner arbeitete 30 Jahre lang als Lehrer für Deutsch und Geschichte an unterschiedlichen Schulen Berlins. Er hat zahlreiche didaktische Lehrwerke (Ernst Klett und Schroedel Verlag) für den Deutschunterricht verfasst, Vorträge zu pädagogischen und didaktischen Themen gehalten und Seminare und Workshops zur Weiterbildung von Lehrern durchgeführt. Rainer Werner schreibt pädagogische Beiträge für Zeitschriften und Tageszeitungen (FAZ, WELT, CICERO-online) und Bücher über den Lehrerberuf („Auf den Lehrer kommt es an“, „Lehrer machen Schule“). Seit seiner Pensionierung war er an acht Berliner Schulen als Vertretungslehrer tätig.



Analoge Leseschwäche

Die Ergebnisse des IQB-Bildungstrends 2022 sind für das Fach Deutsch – wie im Vorjahr – „in hohem Maße besorgniserregend“, heißt es in der am 13. Oktober veröffentlichten Studie[1] des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB).

„Die Schulkinder in Deutschland lesen so schlecht wie nie!“ [2]


Manfred Fischer für Schulforum-Berlin

Schulbücher gelten als altbacken, Apps und Tablets als innovativ. Doch trotz – oder gerade wegen – digitaler Unterstützung lesen Schulkinder in Deutschland so schlecht wie nie. Ist die von den sogenannten „Bildungs“-Stiftungen geforderte „digitale Schule“ ein Irrweg? Bildungspsychologen fordern mehr Papier und genaue Analysen darüber, wo digitale Medien sinnvoll sind und wo sie störend wirken.

Der IQB-Bildungstrend 2022 zeigt den derzeitigen Lesestand der Schülerinnen und Schüler der neunten Klasse in den einzelnen Bundesländern.

In der nebenstehend abgebildeten Grafik[3] ist der prozentuale Anteil der Schülerinnen und Schüler dargestellt, die den Mindeststandard im Lesen nicht erreichen.

Deutschlandweit liegt der Anteil bei 32,5 Prozent! Für sie wird es schwierig bis unmöglich in der weiteren Schullaufbahn den Anschluss zu behalten.

Die Schülerinnen und Schüler der Bundesländer Bremen und Berlin „verweilen“ seit Jahren im Ranking auf den letzten beiden Plätzen. Über die Gründe wird seit Jahren diskutiert!

Wer Bücher liest oder wem vorgelesen wird, kann sich deutlich besser sprachlich ausdrücken. Der Wortschatz der Schüler in der vierten Klasse ist umso größer, je häufiger sie analoge Bücher lesen.

Das ist das Ergebnis einer Studie des Dortmunder Instituts für Schulentwicklungsforschung [4], an der 4611 Viertklässler aus 252 Grundschulen in Deutschland teilgenommen haben. Von denen haben ein Viertel angegeben, (fast) täglich an digitalen Geräten zu lesen.

„Der Wortschatz ist am kleinsten, wenn Kinder oft an digitalen Geräten lesen und gleichzeitig selten bis nie ein Buch.“

Berichtet wird, dass dies möglicherweise mit der Art der Texte zusammenhängt: So beinhalten z.B. Chatnachrichten keine längeren, aufeinander aufbauende Textpassagen und weniger vielfältigen Wortschatz. Dies trägt kaum zu einem Ausbau des Wortschatzes bei und gleichzeitig fehlt die Zeit für sprachförderliche Aktivitäten. Das Forscherteam betont:  

„Sämtliche Studien in den letzten Jahren machen deutlich, dass Sprachkompetenzen unabdingbar sind, um einen erfolgreichen weiteren Schul- und Lebensweg zu ermöglichen.“ [5]

Als Ergebnis empirischer Bildungsforschung kann man festhalten:

Die Nutzung digitaler Medien zur Erlangung von Sprachkompetenz bei Schülerinnen und Schülern reduziert den Wortschatz und hemmt die Fähigkeit zum Textverständnis und zur Textproduktion.

In anderen Ländern wie Frankreich, den Niederlanden und Schweden werden diese negativen Einflüsse von der Politik aufgegriffen und es wird bereits umgedacht.

Schwedens Schulministerin stoppte die Digitalisierungsstrategie ihrer Bildungsbehörde und versprach, statt in Onlinetools wieder mehr Geld in gedruckte Schulbücher zu investieren. Das Karolinska Institut, Medizinische Universität Stockholm[6], erklärte dazu:

„Die Annahme, dass die Digitalisierung die von der schwedischen Bildungsbehörde erwar­teten positiven Effekte haben wird, ist nicht evidenzbasiert, d.h., nicht auf wissen­schaftlichen Erkenntnissen beruhend.“

Weiter wird von der schwedischen Forschergruppe berichtet:

„Die Nationale Bildungsagentur scheint sich überhaupt nicht bewusst zu sein, dass die Forschung gezeigt hat, dass die Digitalisierung der Schulen große, negative Auswirkungen auf den Wissenserwerb der Schüler hat.“

Dies bestätigt aktuell auch ein ARD-Bericht der „Tagesschau“ vom 17.12.2023 zu Schwedens Bildungspolitik mit dem Thema: „Wir haben zu viel digital gemacht“. Lange war Schweden stolz auf seine digitalen Klassenzimmer. Doch daran gibt es inzwischen viel Kritik. Die Lernkompetenz gehe stark zurück, warnt Schwedens Regierung und will wieder mehr Bücher in den Schulen sehen.

Dazu Dr. Klaus Zierer, Ordinarius für Schulpädagogik an der Universität Augsburg: „Ich habe das mal bewusst als `Digitalisierungswahn´ bezeichnet, weil, wo immer wir heute Probleme sehen, ob das im Schulsystem ist, ob das der Lehrermangel ist, ob das Lerndefizite sind. Der erste Griff ist immer sofort zu den `Digitalen Medien´, in der Hoffnung, dass diese die Probleme lösen. Wenn man ehrlich ist, muss man aber feststellen, dass viele Probleme, die wir im Bildungsbereich haben, von einer unreflektierten Digitalisierung letztendlich befeuert werden.“[7]

Was ist also in den Köpfen der Schülerinnen und Schüler los?

Werden analoge Informationen anders verarbeitet als digitale? Werden Texte auf Tablets oder anderen elektronischen Medien von Schülern schlechter durchdrungen als Texte auf Papier?

Diese Fragen stellte eine Studie an der spanischen Universität in Sevilla[8] und löste europaweit Diskussionen aus. Pablo Delgado, Bildungspsychologe, Universität Sevilla:

„Es gibt zwei Haupthypothesen. Die eine ist die fehlende Beteiligung eines Körpers beim Lesen digitaler Texte auf dem Bildschirm. Dies hängt mit der Theorie der ` verkörperten Kognition´ zusammen, die besagt, dass unsere Denkprozesse, unsere kognitiven Prozesse, nicht auf unseren Verstand beschränkt sind, sondern, dass die Art und Weise, wie wir physisch mit Objekten und mit der Welt interagieren, ebenfalls Teil dieser Prozesse ist.“

Das heißt, es macht einen Unterschied, ob wir in einem Lernprozess im Austausch mit einem Menschen oder mit einem Bildschirm sind. Von Bedeutung ist eine lebendige Lehrer-Schüler-Begegnung.  

Eine zweite Hypothese der spanischen Wissenschaftler lautet: Den Menschen, die digitale Texte im Internet lesen, geht es darum, schnell Informationen zu finden, und dies würde zu einer oberflächlichen Lesegewohnheit führen – unabhängig vom Alter. Das wird als „Oberflächlichkeitshypothese“ bezeichnet.

Welche Bedeutung hat diese Erkenntnis für den Unterricht? Sollen also digitale Medien aus dem Unterricht wieder verschwinden? Pablo Delgado:

„Wenn es also einen Wandel in der Bildung in Bezug auf digitale Technologien geben muss, dann würde ich sagen, dass es nicht darum geht, sie nicht mehr zu nutzen. Ich glaube nicht, dass dies eine gute Sache ist, denn die Schüler müssen lernen, diese Werkzeuge zu nutzen. Mit anderen Worten: Die Nutzung der Instrumente muss ein eigenes Bildungsziel sein.“

Die Ergebnisse der PISA-Sonderauswertung: Lesen im 21. Jahrhundert für Deutschland[9]

Schülerinnen und Schüler, die häufig Bücher analog lesen, schneiden beim PISA-Test besser ab als Schülerinnen und Schüler, die Bücher eher online lesen.

Nicht einmal die Hälfte der 15-Jährigen in Deutschland kann Fakten von Meinungen unterschieden – soziale Herkunft spielt beim Umgang mit digitalen Medien eine große Rolle.

In 35 Ländern besteht zwischen den Schülerleistungen im Bereich Lesekompetenz und der Nutzungsdauer digitaler Geräte für schulische Zwecke ein negativer Zusammenhang, insbesondere in Deutschland.

Deutschland ist das Land, in dem zwischen 2009 und 2018 die Freude am Lesen am stärksten zurückgegangen ist.

Was sind die größten Herausforderungen an das deutsche Bildungssystem?

Am 8. Dezember 2023 erschien im „Tagesspiegel“ unter dem Titel „Fragwürdige Bildungsstudie“[10] ein Interview zu den PISA-Ergebnissen mit Dr. Heiner Barz, Professor für Erziehungswissenschaften an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Auf die Frage: Worin sehen Sie die größten Herausforderungen des deutschen Bildungssystems? antwortete er: Ein Problem ist, „dass deutsche Politik durch die Einwanderung von Migranten auch die Schulen vor massive Probleme stellt“. […] „Ein zweites Problem ist die viel beschworene `digitale Bildungsrevolution´[11]. Viele Pädagogen und Bildungsexperten sehen im zu frühen Einsatz von Bildschirmmedien in Kita und Schulen mehr das Problem als die Lösung. Sie verlangen vielleicht nicht nach einer neuen `Kreidezeit´ – aber doch nach einer Rückbesinnung auf die lebendige Lehrer-Schüler-Begegnung, auf das fruchtbare Unterrichtsgespräch und auf den pädagogisch gestalteten Rhythmus von Anstrengung und Entspannung in der Eroberung neuer Wissenswelten.“

Das „Trojanische Pferd“[12] der allumfassenden „Digitalisierung der Bildung“ ist unter uns. Christian Füller schrieb in der Hamburger GEW-Zeitung dazu: „Mit der Digitalisierung aber haben vor allem die Stiftungen mit Technologieunternehmen im Hintergrund[13] eine völlig neue Mission: Sie rollen unter den großen Überschriften ,Teilhabe‘ und ,Kooperation‘ ein großes Trojanisches Pferd in die Schulen – das digitalisierte Lernen samt Endgeräten.“

Sollten nicht die Lehren, die in anderen europäischen Ländern aus dem „Digitalisierungshype“ gezogen werden, auch in deutschen Schulen Beachtung finden?

Artikel als PDF-Beitrag


[1] IQB-Bildungstrend 2022, S. 37, https://box.hu-berlin.de/f/286e96a9a06546b88f4e/?dl=1

[2] Beitrag mit Informationen aus: NANO, 3sat vom 6.12.2023, https://www.3sat.de/wissen/nano/231206-digitale-leseschwaeche-nano-100.html

[3] Bildquelle: https://deutsches-schulportal.de/bildungswesen/iqb-bildungstrend-die-wichtigsten-ergebnisse/

[4] https://ifs.ep.tu-dortmund.de/nachrichtendetail/wortschatz-und-leseverhalten-von-viertklaesslerinnen-in-deutschland-sonderauswertung-einer-repraesentativen-studie-1-26250/

[5] https://ifs.ep.tu-dortmund.de/storages/ifs-ep/r/Downloads_allgemein/Pressemeldung_IFS-Wortschatz_final_webseite.pdf

[6] Karolinska-Institut (Schweden): Stellungnahme zur nationalen Digitalisierungsstrategie in der Bildung. Deutsche Übersetzung.

[7] Aus NANO, 3sat vom 6.12.2023, https://www.3sat.de/wissen/nano/231206-digitale-leseschwaeche-nano-100.html

[8] NANO, 3sat vom 6.12.2023, https://www.3sat.de/wissen/nano/231206-digitale-leseschwaeche-nano-100.html; Start des Interviews nach 4Minuten 33Sekunden.

[9] Aus: https://www.vodafone-stiftung.de/pisa-report-lesen-im-21-jahrhundert/

[10] Siehe: https://www.tagesspiegel.de/wissen/was-sagt-uns-die-studie-wirklich-ein-ausstieg-aus-pisa-konnte-sinnvoll-sein-10889485.html  oder „Tagesspiegel“ vom 8.12.2023, S. 16

[11] Mehr dazu: Bildung im digitalen Wandel – zur Dialektik eines Transformationsprozesses, chwalek bildung_im_digitalen_wandel.pdf (bildung-wissen.eu)

[12] Das Bildungsgeschäft der Bertelsmann Stiftung, Christian Füller, https://www.gew-hamburg.de/themen/bildungspolitik/perfektes-zusammenspiel

[13] Unternehmensnahe Stiftungen im Bildungsbereich, Deutscher Bundestag, 2023, WD 8 – 3000 – 046/23, https://www.bundestag.de/resource/blob/968854/1bb8f689743f55cdb728acb36abcce91/WD-8-046-23-pdf-data.pdf